Skulpturen und Plastiken in Hoyerswerda - Teil 2: Der Stadtrandpark

Alle Menschen...

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Im Sommer 1989, vom 15. Juli bis 1. September, fand in Hoyerswerda das 9. Bildhauersymposium statt. Es war das letzte*) vor der Wende. Das vorgegebene Thema lautete "Alle Menschen machen die Menschheit aus, alle Kräfte zusammengenommen die Welt". Dieser Satz ist (um ein Wort gekürzt) aus Goethes Roman "Wilhelm Meisters Lehrjahre" entlehnt.  
Schauen wir nach, was Dichterfürst Goethe 1795 in seinem Bildungsroman geschrieben hat:
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Herbststimmung in Hoyerswerda

(... und Jarno sprach weiter zu Wilhelm:) »Die meisten Menschen, selbst die vorzüglichen, sind nur beschränkt; jeder schätzt gewisse Eigenschaften an sich und andern; nur die begünstigt er, nur die will er ausgebildet wissen. Ganz entgegengesetzt wirkt der Abbé, er hat Sinn für alles, Lust an allem, es zu erkennen und zu befördern. Da muß ich doch wieder in die Rolle sehen!« fuhr Jarno fort. »›Nur alle Menschen machen die Menschheit aus, nur alle Kräfte zusammengenommen die Welt. Diese sind unter sich oft im Widerstreit, und indem sie sich zu zerstören suchen, hält sie die Natur zusammen und bringt sie wieder hervor. Von dem geringsten tierischen Handwerkstriebe bis zur höchsten Ausübung der geistigsten Kunst, vom Lallen und Jauchzen des Kindes bis zur trefflichsten Äußerung des Redners und Sängers, vom ersten Balgen der Knaben bis zu den ungeheuren Anstalten, wodurch Länder erhalten und erobert werden, vom leichtesten Wohlwollen und der flüchtigsten Liebe bis zur heftigsten Leidenschaft und zum ernstesten Bunde, von dem reinsten Gefühl der sinnlichen Gegenwart bis zu den leisesten Ahnungen und Hoffnungen der entferntesten geistigen Zukunft, alles das und weit mehr liegt im Menschen und muß ausgebildet werden; aber nicht in einem, sondern in vielen. Jede Anlage ist wichtig, und sie muß entwickelt werden. Wenn einer nur das Schöne, der andere nur das Nützliche befördert, so machen beide zusammen erst einen Menschen aus. Das Nützliche befördert sich selbst, denn die Menge bringt es hervor, und alle können's nicht entbehren; das Schöne muß befördert werden, denn wenige stellen's dar, und viele bedürfen's.‹« »Halten Sie inne!« rief Wilhelm, »ich habe das alles gelesen.« – »Nur noch einige Zeilen«, versetzte Jarno; »hier find ich den Abbé ganz wieder: ›Eine Kraft beherrscht die andere, aber keine kann die andere bilden; in jeder Anlage liegt auch allein die Kraft, sich zu vollenden; das verstehen so wenig Menschen, die doch lehren und wirken wollen.‹« – »Und ich verstehe es auch nicht«, versetzte Wilhelm. – »Sie werden über diesen Text den Abbé noch oft genug hören, und so lassen Sie uns nur immer recht deutlich sehen und festhalten, was an uns ist, und was wir an uns ausbilden können; lassen Sie uns gegen die andern gerecht sein, denn wir sind nur insofern zu achten, als wir zu schätzen wissen.«
Aus: Johann Wolfgang von Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre, 1795 Quelle: https://gutenberg.spiegel.de/buch/wilhelm-meisters-lehrjahre-3669/110


*) ein 10. und 11. Symposium wurden 2014 und 2016 organisiert
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So "beschränkt" (siehe Goethes Text) wie nun der einzelne sein mag, so vielfältig dagegen in summa sind "alle Menschen", und so unterschiedlich stellten sich im Jahr 1989 auch die Ergebnisse des 9. Bildhauersymposiums dar.

So entdeckt man zum Beispiel an der "Kleinen Felsenkathedrale" von Peter Lewandowski (DDR, Berlin) viele Details, die durchaus für die unterschiedlichsten Ansichten, Begegnungen oder Erfahrungen stehen könnten.

Peter Lewandowski: Kleine Felsenkathedrale
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Das Jahr 1989 war eine Zeit des Umbruchs und der hochgespannten Erwartungen. Krystyna Struznzyna Kunecka (Polen) gestaltete in Hoyerswerda dazu ein gewaltiges Flügelpaar, dessen irdische Schwere aber (schon damals) nicht erwarten ließ, dass es sich je in die Luft erhöbe...

Im Gegenteil: Für den Rollstuhlfahrer von Marat Ainekow (UdSSR, Kasachstan) scheint es unaufhaltsam abwärts zu gehen, seine Skulptur trägt zudem den aufschreckenden Titel "Abgrund".

Marat Ainekow: Abgrund
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Scheut das Pferd vor dem Abgrund oder wird es hart gezügelt? Marat Ainekow hat in jenem Sommer 1989 offenbar besonders intensiv gearbeitet, denn die seltsame "Reiterfigur" (auch als "Invalide" bezeichnet) stammt ebenfalls aus seiner Hand.

Marat Ainekow: Reiterfigur/Invalide
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Und die Welt ist wahrhaft kompliziert, die Menschheit vom "... geringsten tierischen Handwerkstriebe bis zur höchsten Ausübung der geistigsten Kunst..." (s. o.) in sich zerrissen. Der komplexe Stoff der antiken Sage vom Minotaurus spiegelt diese Widersprüche und veranlasste immer wieder Künstler der verschiedenen Gattungen sich damit zu beschäftigen. Clemens Strugalla (BRD) schuf 1989 die "Minotaurosgruppe", die auch als "Weitsichten des Menschen" betitelt wurde. Denn man muss raus aus dem Labyrinth, ist man eingesperrt im Innern, geht mehr als nur die Orientierung verloren... Bei dieser Skulptur sieht der Stiermann Minotaurus aber irgendwie ganz zufrieden aus.

Clemens Strugalla: Minotaurusgruppe/Weitsichten
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Gibt es für die Menschheit denn überhaupt eine Chance? Stefan Poruban (CSSR/Tschechien) scheint dies mit dem Titel seiner Arbeit - "2. Arche Noah" - möglicherweise zu bejahen.

Stefan Poruban: 2. Arche Noah
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Darüber kann man lange nachsinnen. Und versteckt im Park und in tiefes Nachdenken versunken sitzt eine Frau melancholisch auf einem Kissen, die Beine übereinandergeschlagen, den Kopf in die Hand gestützt. Gyula Meszet-Toth (Ungarn) schuf diese nachdenkliche "Frauenfigur".

Gyula Meszet-Toth: Frauenfigur
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In der sich ständig verändernden Welt ist Hoyerswerda nachgerade dramatisch "eine Stadt im Wandel". (1)
Was dagegen ist sicher? Was ist von Dauer? Stojo Doitschew (Bulgarien) gestaltete eine "Pyramide", die gemeinhin als Symbol für Ewigkeit gilt. Aber selbst diese so unerschütterlich stabil scheinende Form ist aufgebrochen - immerhin stimmt die schöne junge Frau an der Pyramidenseite optimistisch...

Stojo Doitschew: Pyramide (und Details)
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Schauen wir uns zum Abschluss die "Stele mit Kapitell" von Jürgen von Woyski an. Am Schaft ist das Motto des 9. Bildhauersymposiums "Alle Menschen machen die Menschheit aus, alle Kräfte zusammengenommen die Welt" zu lesen, doch muss man mehrfach herumgehen, um den Text zu erfassen. Das Kapitell selbst ist reich geschmückt, es zeigt pflanzliche und figürliche Motive. Und oben von ihrer Ecke aus kann die kleine Frauengestalt wirklich sehr weit schauen... Was mag sie wohl sehen?

Jürgen von Woyski: Stele mit Kapitell
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Quelle:
1) Faltblatt "Spur der Steine", Ein Spaziergang durch Hoyerswerda zu Kunstwerken im öffentlichen Raum, Kulturfabrik Hoyerswerda e. V., 2. Aufl. 2018/19

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