Die Kapitelle im Chorumgang des Magdeburger Domes


Bild "MD_Domansicht.jpg"
Dom zu Magdeburg, Ansicht von Nordost
Beim Bau des ersten gotischen Domes auf deutschem Boden gab es gleich mehrere Herausforderungen. Zum einen wollte Erzbischof Albrecht etwas Modernes, eine lichte und helle Kathedrale, so wie er sie möglicherweise auf seinen Reisen in Frankreich kennengelernt hatte, zum anderen sollte die neue Kirche natürlich größer und schöner werden als die alte aber auch der Tradition und der reichspolitischen Bedeutung der kaiserlichen Grablege von Otto I. Rechnung tragen. In Magdeburg wurde 1209 der Neubau des gotischen Domes nach französischem Kathedralmuster mit Chorumgang und Kapellenkranz von Osten her begonnen. Der Baustil des Chorbereichs ist deshalb in Magdeburg ungeheuer spannungsgeladen: noch ganz der romanischen Tradition verhaftet werden hier die neuen (gotischen) architektonischen Wege beschritten und ausprobiert. Für das Chorinnere werden dabei die kostbaren antiken Säulen, die Kaiser Otto I. einst aus Italien über die Alpen bringen ließ um seinen imperialen Herrschaftsanspruch zu verdeutlichen, wiederverwendet. Im Chorumgang selbst werden die Kapitelle der mächtigen Pfeiler auf das prächtigste bildhauerisch gestaltet. Dieser Kapitellschmuck gehört mit zu den eindruckvollsten Arbeiten der Zeit. Eine unglaubliche Formenvielfalt von Blattwerk, Knospen, Ranken, Dämonen, Fabelwesen und menschlichen Gestalten begegnet hier dem Betrachter. Was die dargestellten Szenen im Chorumgang im Einzelnen bedeuten, ist heute vielfach nicht mehr eindeutig nachvollziehbar.
Bild "MD_Chorkapitell_00.jpg"
Chorumgang
Etliche Forscher haben sich an Deutungsversuchen bemüht und kommen teilweise zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen, einige erkennen in den Kapitellen die Geschichten um den Propheten Daniel des Alten Testamentes mit zeitgenössischen (um 1200) Bezügen zu aktuellen politischen Ereignissen. Der Frevel der Könige Nebukadnezar und Belsazar gegen das Volk Gottes wird hier in den Zusammenhang gebracht zu den Auseinandersetzungen zwischen Kaiser und Papst, als Otto IV. in das Erzbistum Magdeburg einfiel, nachdem er vorher vom Erzbischof gebannt worden war. Ein anderer Interpretationsversuch stammt von Monika Feller-Kniepmeier (1), die von der Hypothese eines großangelegten einheitlichen theologischen Programms ausgeht. Hieran angelehnt sollen einige Szenen des Zyklus auf dem Chorumgang "Vom Dunkel ins Licht" (d. h. an der Nordseite beginnend) vorgestellt werden.

Dieses Bildprogramm ist in seiner Abfolge der Themen einzigartig: Es ist die Geschichte der Welt.
Nach mittelalterlicher Auffassung ist Geschichte immer Weltgeschichte und somit religiös begründet. Paulus teilt die Weltgeschichte in drei Zeitabschnitte ein:
    ante legem  (vor dem Gesetz) - die Geschehnisse in der Zeit von Adam bis Moses
    sub legem   (unter dem Gesetz) - die Zeit von Moses bis Christus
    sub gratia   (unter der Gnade) - seit der Erlösung durch Christus

Folgerichtig beginnt der Zyklus in Magdeburg am Anfang der Weltgeschichte mit dem

Sündenfall

Bild "MD_Chorkapitell_01.jpg"
Zwei kleine weibliche Figuren, die erste in nahezu kindlicher Nacktheit, die zweite modisch bekleidet, doch so, dass der Körper durch das Gewand deutlich modelliert wird (sogenanntes "nasses" Gewand), umfassen kleine Bäumchen mit ihren Händen, als ob sie sich an ihnen halten wollten.
Bild "MD_Chorkapitell_02.jpg"
Ein hinter Blättern versteckter männlicher Kopf mit zum Sprechen angesetztem offenem Mund zeigt deutliche Anzeichen von Angst und Erschrecken. Es handelt sich um Eva vor und nach dem Sündenfall und den sich hinter Bäumen versteckenden Adam.

Würdevoll ist dagegen die Gestaltung des Hauptes Gottvaters, der sorgenvoll und nachdenklich auf die von ihm geschaffenen Menschen blickt. Und der kleine Kopf mit Kapuze hat das Geschehen genau beobachtet. Diese abstrahierte Darstellung des Sündenfalls ist in Magdeburg einmalig und ohne Vorbilder.
Bild "MD_Chorkapitell_03.jpg"Bild "MD_Chorkapitell_04.jpg"
Und so nimmt die Weltgeschichte ihren Lauf und die Welt ist bevölkert von Untieren und Bosheit.
Darauf könnte auch das Kapitell mit den Drachen als Symbole des Bösen Bezug nehmen. Hält der in Eintracht mit den Drachen scheinende raffgierige Mensch etwa Geldbörsen in seinen Händen? (Und wäre denn eine Verbindungslinie zu aktuellen Finanzkrisen wirklich zu weit hergeholt ...?)
An exponierter Stelle, an den Pfeilern der Scheitelarkade wird die Weltgeschichte dramatisch fortgesetzt: Mehrere Szenen überlagern sich hier in gedrängter Fülle.

Bild "MD_Chorkapitell_07.jpg"Bild "MD_Chorkapitell_06.jpg"
Gut zu erkennen am nördlichen Pfeiler der Scheitelarkade ist ein Kriegselefant mit aufgeschnallter, zinnenbewehrter Burg. An den Burgmauern sind Schilde aufgehängt, drei Ritter in Rüstung (Kettenhemden?), einer mit Streitaxt versehen, befinden sich im Innern. Zwei weitere Ritter scheinen die Burg über eine Brücke und Zugbrücke (die irgendwie aufgespießt aussieht) zum Kampf zu verlassen, der Vordere lässt dabei seine Keule auf ein Untier sausen. Seltsamerweise haben diese beiden Kämpfer keine Gesichter. Handelt es sich hier um eine aktuelle Darstellung der Kreuzzüge? Oder um die Verfolgung der Israeliten durch die Krieger des Pharao? Das lässt sich nicht zweifelsfrei ergründen. Um die Ecke herum (hier nicht abgebildet) sind nach einem Fabelwesen jedenfalls wasserfallartige Massen (die Sintflut), ein Haus mit Steueruder (die Arche Noah), eine Taube und ein knieender bärtiger Mann mit einer Gesetzestafel (Moses) dargestellt. Wir treten also jetzt in die Phase sub legem - unter dem Gesetz - ein.

Verheißung - Verkündigung

In der nächsten Szene überstürzen sich die Ereignisse: Zwei teuflische Dämonen haben einen König ergriffen. Der linke Dämon umfasst den Körper des Königs mit den Krallen seiner linken Hand, mit der rechten hat er ihm bereits den Mantel entrissen, so dass der Herrscher im Untergewand da steht und nur das Szepter auf seine einstige Macht noch hinweist.

Bild "MD_Chorkapitell_08.jpg"Bild "MD_Chorkapitell_09.jpg"Bild "MD_Chorkapitell_10.jpg"
Der rechte Dämon packt ihn am rechten Arm (will er den brechen?) und linken Bein. Dahinter steht eine Burg zwischen deren Zinnen eine Hand mit den Fingern nach oben erscheint und hinter der Burg erkennt man einen umstürzenden Turm. Etliche Forscher meinen in dem von Teufeln gepackten Herrscher den König Belsazar zu erkennen und in der Hand zwischen den Zinnen das Menetekel. Doch folgt man der Darstellung Feller-Kniepmeiers könnte es auch die Prophezeiung des Ezechiel sein, " ... dass dem König von Ägypten der Arm gebrochen wird, ... so dass er nie wieder zusammenwächst ... nie wieder wird der Pharao mit ihm ein Schwert führen ..." Der fallende Turm steht dann als Sinnbild für den Untergang Ägyptens ("... ich verwüste die prächtigen Paläste ... ich setze ganz Ägypten in Brand ..."). Die Darstellung der Schwurhand zwischen den festen Zinnen würde dann den Bund mit Gott ("... ich schließe einen Bund und verbürge mich für Frieden und Sicherheit.") bekräftigen. (Zitate aus Ezechiel, 30, 34)
Bild "MD_Chorkapitell_11.jpg"
Der Prophet Ezechiel selbst (mit angedeutetem Nimbus) ist in der darauf folgenden Szene zu erkennen, er hält eine Tafel in der Hand und scheint zu einem Mann mit Kapuze zu sprechen. Ob der Kapuzenmann derselbe ist wie in der allerersten Szene vom Anfang der Welt? Ezechiel jedenfalls verkündet in seiner Prophezeiung die kommende Herrschaft Christi - und damit wird die dritte Phase der Weltgeschichte "sub gratia" vorbereitet.
Dieser dritte Abschnitt der Weltgeschichte nun beginnt mit der Darstellung der Verkündigung der Geburt Christi in Magdeburg am zweiten (südlichen) Pfeiler der Scheitelarkade an ebenfalls exponierter Stelle.

Bild "MD_Chorkapitell_12.jpg"Bild "MD_Chorkapitell_13.jpg"
Doch die Figuren des stubsnasigen Erzengels Gabriel und der Jungfrau Maria sind übereck angeordnet, so dass sie nicht miteinander kommunizieren können. Zwischen beiden fliegt die Taube des Heiligen Geistes zu Maria und überbringt ihr die Botschaft. Das ist außerordentlich ungewöhnlich, auch scheint Maria (noch?) sehr ungerührt zu sein. Mit der Erfüllung der Prophezeiung des Ezechiel und der Überbringung der Heilsbotschaft ist auch der Kampf zwischen Gut und Böse in eine neue Phase getreten.

Bild "MD_Verkuendigungskapitell_01.jpg"Bild "MD_Verkuendigungskapitell_02.jpg"Bild "MD_Verkuendigungskapitell_03.jpg"Bild "MD_Verkuendigungskapitell_04.jpg"Bild "MD_Verkuendigungskapitell_05.jpg"
Verkündigungskapitell

Bild "MD_Chorkapitell_15.jpg"
Und jetzt taucht eine der seltsamsten Figuren der Magdeburger Kapitelle zwischen all den skurrilen Wesen und all dem Blatt- und Rankenwerk auf: das Antlitz eines Mannes mit verkniffenem Gesicht und phantastischer Kopfbedeckung, das bis heute Rätsel aufgibt.
Bild "MD_Chorkapitell_14.jpg"
Etliche Forscher haben dieses Antlitz mit den scharfen Falten über der Nasenwurzel und den leicht schrägstehenden Augen bisher als das Selbstporträt des selbstbewussten Baumeisters interpretiert, der hier seine Seelenqualen in Stein meißelte. Doch Baumeisterporträts waren um diese Zeit absolut unüblich. Verlockend erscheint deshalb die von Feller-Kniepmeier vertretene Annahme, dass es sich hier um einen "Magier", um einen Gegenspieler zur Heilsbotschaft, ja wahrscheinlich um den Antichrist höchstpersönlich handelt, der mit finsterem Gesicht die Verkündigung erfährt, aber dem Heilsplan nichts gleichwertiges entgegenzusetzen hat.

Kampf gegen das Böse

Dieser Kampf ist noch lange nicht entschieden, überall lauern die Gefahren, und der Wald ist voll mit seltsamen Wesen und ganz realen Untieren, wie es in dem berühmten Magdeburger Wolfskapitell dargestellt wird.

Bild "MD_Chorkapitell_16.jpg"Bild "MD_Chorkapitell_17.jpg"
Ein unbewaffneter Mann wird plötzlich im Wald von einem Wolf angegriffen. Der Mann versucht dem Untier die Kehle zuzudrücken, doch noch ist der Ausgang des Kampfes offen. Mehrere Forscher sehen in dieser Szene eine Anspielung auf den Konflikt des Erzbischofs Albrecht mit dem Welfen Otto IV., doch es wäre auch möglich, dass hier die ganz reale und jedermann begreifbare tägliche Gefahr in Szene gesetzt wurde.

Bild "MD_Chorkapitell_18.jpg"
Bei den Gefahren des täglichen Lebens zahlt sich ein gerechter und frommer Lebenswandel aus und es ist gut, dabei himmlischen Beistand zu haben.  So ein gerechter Lebenswandel wird möglicherweise in der Szene mit dem frommen König dargestellt: er sitzt auf seinem Thron, die Krone auf dem Kopf, das Szepter (das gleiche, wie bei dem von Dämonen gepackten König Ägyptens?) hält er in der linken Hand und in der rechten offenbar eine Gebetsschnur. Neben ihm steht eine Schlange, die dem König aber nichts anhaben kann, so sehr sie sich auch krümmt.


Bild "MD_Chorkapitell_19.jpg"Bild "MD_Chorkapitell_20.jpg"
Die Gemeinschaft Christi ist eben ein starker Schutz, doch wenn man sie verlässt, wird man ein Raub des Bösen. Vielleicht sind die kleine Tiere (Tauben?) schlagenden Raubvögel an den Kapitellen solche Ermahnungen, diese Gemeinschaft nicht zu verlassen.

Denn dass das Leben unablässiger Kampf ist und der Teufel immer wieder seine Opfer findet, wird drastisch in einer weiteren Szene vorgeführt:

Bild "MD_Chorkapitell_21.jpg"Bild "MD_Chorkapitell_22.jpg"
An der Ecke des Kapitells kämpft ein Mann mit einer Keule und mit ganzer Kraft gegen ein um die Ecke kommendes Höllenwesen - noch scheint der Kampf unentschieden, doch schon in der folgenden Szene reitet der Teufel auf einem geflügelten Dämon, einen abgeschnittenen Menschenkopf an den Haaren haltend. Links und rechts von ihm zwei dämonische Wesen, dem einen versucht eine Schlange ins Auge zu beißen.
Bild "MD_Chorkapitell_23.jpg"
Rechts von diesen Höllengestalten entdecken wir weitere schreckliche Wesen, eine aufrecht stehende Schlange, über Eck zwei Drachen, die sich selbst in den Hals beißen und eine Art hässlicher Käfer (oder Spinne?), der zwischen den Klauen der Drachen herumkrabbelt.
Bild "MD_Chorkapitell_24.jpg"Bild "MD_Chorkapitell_25.jpg"
Schaut man dann um das Kapitell herum, erblickt man eine Szene vollkommener Ruhe und Gelassenheit: Dem frommen Mann, dem wahrhaft gläubigen Christenmenschen, können die Ausgeburten der Hölle nichts anhaben. Über ihm schwebt Christus in Form eines Adlers (er hat irgendetwas zusammengerolltes ergriffen, es ist nicht genau zu erkennen, vielleicht ist es die Schlange, das Symbol des Teufels?), vor ihm prallen die finsteren Mächte zurück und beißen sich halt selbst in den Hals (und den Kopf ab?). Sogar der doppelleibige Riesendämon sitzt jetzt still über Eck und erinnert irgendwie an ein braves Hündchen ...
Bild "MD_Chorkapitell_27.jpg"Bild "MD_Chorkapitell_28.jpg"
Es ist nicht eindeutig, ob bei dem nächsten Kapitell der siegreiche Christus noch einmal symbolisch als Adler dargestellt wird, der endgültig den Teufel besiegt, oder ob die Ermahnung, fest im Glauben in der Gemeinschaft Christi zu stehen, mit Hilfe der schlagenden Raubvögel einfach nur noch einmal wiederholt wird.

Erlösung

Bild "MD_Tympanonfeld.jpg"
Der großangelegte Zyklus der Kapitelle des Magdeburger Domes jedenfalls vollendet sich am Tympanon zur Tür der Magdalenenkapelle. Links auf dem Relief berichtet hier Maria Magdalena dem Petrus von dem  wunderbaren Ereignis, das ihr widerfahren ist, denn ihr ist der wiederauferstandene Christus, wie auf der rechten Seite des Reliefs dargestellt wird, leibhaftig erschienen. Und so schließt sich der Kreis der Weltgeschichte: Hoch oben im Hohen Chor ist der vom Schlussstein segnende Christus als Weltenherrscher (Pantokrator) zu erkennen.

-----------
Im Magdeburger Dom ist natürlich noch viel mehr zu entdecken. Auch ist die obige Darstellung der Chorumgangskapitelle nicht vollständig. Die Interpretation des ikonographischen Programms in der Fachliteratur ist durchaus kontrovers, sie folgte hier vereinfacht den Ausführungen von Monika Feller-Kniepmeier; mehr und ausführlichere Informationen und Diskussionen finden Sie in der Publikation:

(1) Monika Feller-Kniepmeier, Bildgeschichten im Magdeburger Dom, Die figürlichen Kapitelle im Chorumgang, Deutscher Kunstverlag GmbH, München Berlin 2009, ISBN 978-3-422-06858-2


Jetzt aber schnell weiter zu einem der Höhepunkte mittelalterlicher Skulpturen: Die klugen und törichten Jungfrauen im Magdeburger Dom!

Bild "2_next.png"
zu den Jungfrauen