Die Turmuhr in der St. Stephanskirche von Tangermünde

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Stephanskirche, Innenraum nach O
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Nordturm
Die St. Stephanskirche in Tangermünde wurde ab 1334 zu einer gotischen Hallenkirche mit Chorumgang und Seitenkapellen umgebaut.  Von der Doppelturmfassade wurde jedoch nur der Nordturm fertiggestellt. Beim großen Stadtbrand vom 13. September 1617 wurde auch die Kirche schwer beschädigt, der Nordturm mit seinen Glocken stürzte ein. Erst knapp hundert Jahre später wurde die heutige Dachkonstruktion mit der Turmuhr errichtet. Im Innern der Stephanskirche wird das Werk der Turmuhr (Fa. Weule) aus dem Jahr 1902 ausgestellt und in einem Infoblatt auf die "Kleine Geschichte der Zeitmessung" eingegangen.

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Uhrwerk der Turmuhr von 1902

Der Text des Infoblattes wird im Folgenden im Wortlaut wiedergegeben:

"Eine kleine Geschichte der Zeitmessung:
Die Geschichte der modernen europäischen Zeitmessung ist eng mit den Ritualen der Mönche des frühen Mittelalters verbunden. Bei der periodisch wiederkehrenden Gebetszeremonie richtete man sich neben dem Stand der Sonne und der Gestirne nach Wasser- und Sanduhren. Auch Markierungen in Kerzen sowie an Ölgefäßen entsprechender Lampen dienten der Zeitmessung. Die Beobachtung der Himmelskörper ließ u. a. auch die Herstellung recht komplexer Sonnenuhren zu, welche neben der Uhrzeit auch die Stellung der Sonne zum Tierkreiszeichen sowie den Monat bzw. die Jahreszeit anzeigen.

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Infoblatt am Uhrwerk
Ab ca. 1300 werden die ersten Räderuhren hergestellt; u. a. bediente man sich s. g. Türmeruhren, welche durch Anschlagen einer Schelle den Glöckner an das Schlagen der Stundenglocke erinnerte und somit das öffentliche Leben regelte und beeinflusste. Bis dahin empfand man keinen - den uns allen bekannten - Zeitdruck; ausschließlich der natürliche Tagesrhythmus bestimmte den Tagesablauf. Vielfältige Bemühungen der Zeitdefinition bzw. -messung führten im Spätmittelalter durch Papst Gregor XVIII im Jahre 1582 zur Verkündung eines einheitlichen Kalenders, nach dem wir uns heute in der christlich geprägten Welt richten. In der Mitte des 14. Jh. werden in Europa zunehmend öffentliche Gebäude mit mechanischen Werken ausgerüstet, später werden auch erstaunliche Uhren komplexer Kinematik, mit der u. a. der Lauf der Gestirne nachvollzogen wird, gebaut. Basis war das damals herrschende geozentrische Weltbild (Ptolomäus) sowie ab Mitte des 17. Jh. das heliozentrische Weltbild (Kopernikus). Wann das erste Räderuhrwerk auf der im Jahre 1188 erbauten Kirche zu St. Stephan eingebaut wurde ist leider nicht mehr zu recherchieren, da spätestens am Sonnabend, den 13.09.1617, das gesamte Archiv, welches zu dieser Zeit im Rathaus gelagert wurde, verbrannte.
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Gestellt wurden die Räderuhren einmal täglich - Basis ist die Sonnenuhr - welche sich als "Normaluhr" in jeder Stadt (befand). Da aber eine konventionell konstruierte Sonnenuhr ohne Ortszeitkorrektur nur die "wahre Ortszeit (WOZ)" des jeweiligen Aufstellungsortes, nicht aber die 1884 eingeführte "Zonenzeit", also die abweichende, für alle Orte einer Zeitzone geltende (Zeit), anzeigt, denn: ca. alle 17 km geht infolge der gleichmäßigen Erdrotation (in östlicher Richtung) die Sonne eine Minute früher auf und auch wieder unter (!), kommt es zunehmend zu Unstimmigkeiten bei der Kommunikation mit anderen Städten und Gemeinden (besonders im Post- und Bahnwesen). Hier hatte sich u. a. der vielseitig interessierte Tangermünder Kantor August Stöpel mit der Erarbeitung einer s. g. "Zeitgleichungstabelle", welche die verschiedenen Ortslängengrade des Regierungsbezirks Magdeburg berücksichtigte, und nach der die öffentlichen Uhren im Jahre 1815 zu stellen waren, verdient gemacht. Eine mittlerweile leider schon stark verwitterte und nur noch als Fragment erhaltenen Sonnenuhr wurde durch Hr. Stöpel um 1810 an einen Süd-/Ostpfeiler (zum Pfarrhof) der St. Stephanskirche angebracht. Hiebei handelt es sich um eine s. g. vertikale Süduhr ohne Ortszeitkorrektur in 15°-"Dürer-Teilung", bei der der Neigungswinkel des Schattenwerfers einem rechten Winkel, also abzüglich dem geographischen Breitengrad Tangermündes (52°32') entspricht (also: 37°28').
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Infoblatt, Ausschnitt
Vor der Errichtung der Welschen Haube (1714) befand sich ein Zifferblatt über dem Hauptportal der St. Stephanskirche in ca. 40 m Höhe. In zwei sich im Kirchenarchiv befindlichen Zeichnungen wird dieses Zifferblatt gelb, davon einmal (allerdings in einer Offerte) erkennbar als Sonne dargestellt. Nach dem großen Stadtbrand und den Wirren des sich anschließenden 30jährigen Krieges wird die heutige Barockhaube gesetzt, hier wird 1727 ein Uhrwerk sowie die vier "Weisertafeln", wie wir sie heute kennen, integriert. Aufgrund wiederholter Beschwerden der Garnison sowie der Post wegen Ungenauigkeiten (wahrscheinlich auch wegen der unberücksichtigten Zeitgleichung) wird das Werk 1762 erneuert. Nach fast 100 Jahren, also im Jahre 1860, wird das verschlissenen Werk durch ein neues ersetzt. Im Jahre 1902 wurde ein s. g. "Pendelregulierwerk" durch den Maurermeister Fr. Mendau für 1900,- Mark geliefert und montiert. Dieses Werk ist total verschlissen (Lager, Zahnflanken, fehlende Teile) und ist als restauriertes Werk hier zu besichtigen. Das Uhr- und Zeigerwerk, welches gegenwärtig die ca. 1,30/1,05 m großen Zeiger der St. Stephanskirche antreibt, wurde im Jahre 1941 von der (nicht mehr existierenden) Fa. J. F. Weule, Turmuhrenfabrik & Glockengießerei, Bockenem/Harz gebaut und für 4887,- RM geliefert. Eine dem Angebot vom 27. August 1940 beigefügte Zeigeranstrahlvorrichtung (60 W) ist aus Kostengründen leider nicht berücksichtigt worden.
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Uhrwerk der Turmuhr von 1902
Interessante Rechnungen und Offerten im Kirchenarchiv belegen die handwerklichen Fertigkeiten der Uhrmacher. Hier ist alles Handarbeit, vom Nachschleifen der Zähne bis zum Fertigen und Ausarbeiten von Gleitlagern (Buchsen), Sperrkegeln, Windflügeln u. a. m. Die der Rechnung beigefügte Listung der einzelnen Gewerke ist - gemäß der Binsenweisheit eines jeden Kaufmanns - voll des Lobs über die eigene Arbeit. Nachdem im 1. Weltkrieg die Uhrenglocken eingeschmolzen wurden, werden im Juni des Jahres 1919 WEULE-Stahlglocken gesetzt. Die Viertelschlagglocke hat einen Durchmesser von 0,85 m, wiegt 260 kg und schlägt den Ton D, der Stundenschlag hat eine Durchmesser von 1,01 m, wiegt 450 kg und klingt mit dem Ton H. Die Befestigung der Glocken ließ diese leider nicht frei schwingen, was den häufig beklagten "stumpfen Klang" der Uhrenglocken erklärt.
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Turmuhr, Zifferblatt
Mit der Restaurierung der Spitze wurden (die) Bronzeglocken für den Stunden- und 1/4-Schlag neu gegossen und eingehängt. Im Kommunikationszeitalter hat die Qualität der Zeitanzeige einer mechanischen Turmuhr, w. der Längenausdehnung des Pendels infolge von Temperaturschwankungen sowie aufgrund des Spiels der Verteilergetriebe, Zeiger- und Gegengewichte, für den täglichen Gebrauch zwar ausreichende, doch generell eher symbolische Bedeutung. Wo aber stände - wenn nicht auf St. Stephan - die historische Silhouette von Tangermünde prägend, ein derartiges Werk passender?"
Quelle: Infoblatt in der St. Stephanskirche, Tangermünde

Anmerkung: Als "Weisertafel" wurde früher das Zifferblatt bezeichnet, die Zeiger nannte man "Weiser".

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Tangermünde